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»Jobcenter legen es bewußt darauf an, abzuschrecken«

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Beitrag von Admin Mo Jul 01, 2013 12:53 pm

»Jobcenter legen es bewußt darauf an, abzuschrecken«


Fast fünf Millionen Menschen verzichten auf die staatliche Unterstützung, weil sie schikaniert oder hingehalten werden. Gespräch mit Martin Behrsing

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Martin Behrsing ist Sprecher des Erwerbslosenforums Deutschland

Mehr als jeder dritte Berechtigte verzichtet bei Erwerbslosigkeit nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf staatliche Unterstützung. Warum scheuen sich so viele Menschen, Hartz-IV-Leistungen beim Jobcenter geltend zu machen?

Es gibt unterschiedliche Gründe, warum 4,9 Millionen Menschen darauf verzichten, Sozialleistungen zu beantragen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten. Einerseits schämen sich viele, zum Amt zu gehen und dort um Unterstützung »betteln« zu müssen. Sie sind nicht genügend aufgeklärt darüber, welche Rechtsansprüche sie haben.

Andererseits erleben Menschen schon Provokationen, wenn sie die Jobcenter nur betreten. Diese »entwürdigende Prozedur« sieht auch die Linken-Vorsitzende Katja Kipping als Ursache für den Verzicht an. Wir vom Erwerbslosenforum beobachten, daß immer mehr Jobcenter es bewußt darauf anlegen, abschreckende Wirkung zu entfalten. Insofern halten sich manche Hartz-IV-Berechtigte lieber fern oder geben irgendwann entnervt auf. Wir müssen davon ausgehen, daß mancherorts bis zu 40 Prozent der Menschen abgewiesen werden, die einen Antrag stellen. Vielfach handelt es dabei um sogenannte Aufstocker, die arbeiten gehen, aber zu wenig Lohn erhalten.
Wie gehen Jobcenter-Mitarbeiter dabei vor?

Sie verschweigen Hartz-IV-berechtigten Aufstockern, welche Ansprüche sie haben. Sie rechnen etwa folgendes vor: So hoch ist Ihre Miete, so hoch Ihr Einkommen, entsprechend steht Ihnen der Betrag X zum Lebensunterhalt zu. Unter den Tisch fallengelassen wird dann etwa der 20prozentige Freibetrag auf das Einkommen, den ein Erwerbstätiger behalten darf. Auch bei Erwerbslosen nutzt die Arbeitsagentur aus, daß sie ihre Rechte nicht kennen – insbesondere bei »arbeitsmarktfernen Kunden« – gemeint sind Arbeitslose mit vielen Problemen oder Migranten, die kaum Deutsch sprechen. Jobcenter-Mitarbeiter fordern diese »Kunden« wiederholt auf, Bescheinigungen einzureichen, schreiben aber immer wieder zurück, es fehle etwas – unabhängig davon, ob der Erwerbslose sie nachgereicht hat oder sogar eine Bescheinigung des Amtes über deren Eingang nachweisen kann. Es folgt die Drohung, die Sozialleistung komplett zu streichen. Das wird durchgezogen, bis der Betroffene entnervt aufgibt. Wir haben häufig erlebt, daß Familien nur vom Kindergeld leben. Sie können keine Miete mehr zahlen und fliegen aus ihren Wohnungen.
Ist all das eine bewußte Methode?

Ja. Viele Jobcenter müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, aktiv mitzuwirken, um einen Leistungsantrag zu verhindern und Menschen aus dem Bezug zu drängen. In einem Vorstandsbrief der Bundesagentur für Arbeit zur »Planung und Steuerung der gemeinsamen Einrichtungen der Grundsicherung« für 2013 heißt es: »Der Erfolg unserer Anstrengungen wird in den nächsten Jahren noch mehr am Abbau des Langzeitleistungsbezugs gemessen.« Klartext: Nicht Abbau der Arbeitslosigkeit ist das Ziel, sondern das Vorenthalten der Leistungen. Dazu scheinen alle Mittel recht! Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ist vorzuwerfen, daß sie nicht endlich dafür sorgt, daß Menschen ihre Rechtsansprüche auf Sozialleistungen auch durchsetzen können.
Hat es Auswirkungen auf den Hartz-4-Satz, wenn mehr als ein Drittel der Menschen ihren Rechtsanspruch auf Sozialleistungen nicht geltend machen?

In der Tat! Es gibt nur 384 Euro plus Miete, weil der Hartz-IV-Satz nach einem Durchschnitt der arbeitenden Menschen berechnet ist, bei dem auch das Einkommen von verdeckt Armen hinzugezogen wurde. Das Bundesarbeitsministerium gibt zu, daß deren Zahl als »beträchtlich« anzusehen ist – will aber die Berechnung nicht ändern. Die Begründung dafür ist skandalös: Dann würde erkennbar, daß längst auch Menschen aus dem »Mittelstand« unter dem Existenzminimum leben.
Wie ist erklärbar, daß es rund um dieses Thema so still ist?

Die SPD hofft offenbar nach den Bundestagswahlen auf eine große Koalition mit der CDU – und hat ja die Hartz-IV-Gesetzgebung erst hervorgebracht. Klar, daß da nichts zu erwarten ist! Bei den Grünen wird kaum verständlich, warum sie nicht offensiver sind. Die Partei Die Linke bringt das Thema häufiger ein – aber ohne großen Enthusiasmus. Die Opposition muß jetzt eine Erhöhung des Hartz-IV- Satzes auf mindestens 500 Euro plus Miete fordern, sonst macht sie sich unglaubwürdig.

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