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Beitrag von Admin Di Jul 02, 2013 10:54 pm

Die Mittelschicht wehrt sich gegen höhere Steuern – damit aber hilft sie nur den Reichen, nicht sich selbst

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Für die Grünen ist klar, wie sich mehr Gerechtigkeit schaffen ließe: durch höhere Besteuerung der Reichen und durch Entlastung für die Mittelschicht und die Geringverdiener. Die FDP deutet diese Pläne anders. Als "Graf Dracula der Mitte in Deutschland" muss sich Jürgen Trittin von Rainer Brüderle bezeichnen lassen. Wer hat nun recht? Welche Steuerpolitik wäre für die Mittelschicht die beste?

Das Thema der Steuergerechtigkeit hat in den vergangenen Jahren an Brisanz gewonnen, weil eine zunehmende soziale Unwucht im Land spürbar wird. Zwar kommt Deutschland gut durch die Krise, doch das alte Verteilungsmodell steht auf der Kippe. Die Gesellschaft des "Mehr für alle", die drohende Verteilungskonflikte durch Wohlstandsgewinne auf breiter Front zu entschärfen wusste, weicht einer Gesellschaft, in der die Einkommen und Vermögen der Mittel- und der unteren Schichten stagnieren. Als Gewinner hingegen dürfen sich die Vertreter der oberen Einkommensgruppen fühlen.

Große Teile der gesellschaftlichen Mitte sehen diese wachsende Ungleichheit kritisch, das Unbehagen nimmt zu. Die Einkommensexzesse in den oberen Etagen sind nicht mit dem eigenen Verständnis von leistungsgerechter Bezahlung zu vereinbaren. Zugleich gilt: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die Steuersätze für die Bezieher hoher Einkommen und für Vermögende so niedrig. Sie haben von der Entlastungsmode des neoliberalen Zeitgeists am meisten profitiert.

Warum aber bleibt die Mittelschicht so unentschlossen und ruhig, statt eine gerechtere Besteuerung zu verlangen?

Unaufgeklärtes Eigeninteresse

Ein Teil der Erklärung dürfte lauten, dass sich die Mittelschicht über lange Zeit von den Steuersenkungsangeboten der Politik hat einnehmen lassen. In Wahrheit fielen die Einkommensgewinne in der Mittelschicht allenfalls moderat aus. Weit mehr kam für die Oberschicht heraus. Der Eigennutzen war also wider Erwarten kleiner als der Fremdnutzen. Für die Steuerkürzungen der Bush-Regierung ist eindrucksvoll belegt worden, dass Menschen ihre wahlpolitischen Präferenzen vornehmlich anhand der eigenen Steuerlast ausbilden und weniger aufgrund der verteilungspolitischen Implikationen insgesamt – auch wenn diese aus ihrer Sicht am Ende ungerecht ausfallen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Larry Bartels hat dies als unenlightened self-interest bezeichnet, als unaufgeklärtes Eigeninteresse. In Amerika wurde das obere eine Prozent der Bevölkerung richtig reich, während der Staat immer tiefer in die Verschuldung abglitt.

Zum anderen herrscht eine generelle Angst vor Steuererhöhungen, weil jeder fürchtet, dass es den Falschen trifft – nämlich ihn selbst. Diese Empfindlichkeit ist in der Mittelschicht besonders groß, weil sie ihre Belastbarkeit nach mehr als einem Jahrzehnt der Einkommensstagnation ausgereizt sieht. Sie argwöhnt, dass es denjenigen mit hohen Einkommen außerdem bei jeder Erhöhung gelingen werde, ihre Privilegien durch Steuerschlupflöcher und Abschreibungsmöglichkeiten zu sichern. Zudem ist der Spitzensteuersatz heute so niedrig angesetzt, dass er bereits in der oberen Mittelschicht greift. Das führt zu einer fatalen Koalition: Mitte und Oben fühlen sich ebenso gemeint und schalten auf Abwehr, sobald der Spitzensteuersatz angehoben werden soll. Das gilt insbesondere für jene Teile der Mittelschicht, die bescheidene Vermögen erlangt haben, in Form von Immobilien, Aktien oder Anwartschaften auf Riester-Renten und Lebensversicherungen. Wenn der Staat hier zugreift, geht es schnell ans Eingemachte. Was die höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften oder Erbschaften angeht, tritt die Mittelschicht deshalb verständlicherweise auf die Bremse. Auf diese Weise aber macht sie sich zum Steigbügelhalter der wirklich Reichen, die dem Steuerstaat kaum etwas gönnen. Die neuste Kampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft schlägt genau in diese Kerbe, indem sie fragt: "Ist es gerecht, die Steuern zu erhöhen?" Das ersetzt die Frage nach Gerechtigkeit durch populistische Angstmacherei.

Im Unterschied zu den wirklich Arrivierten ist die Mittelschicht auf staatliche Daseinsvorsorge angewiesen und kann sich eine chronisch unterfinanzierte öffentliche Hand nicht erlauben. Der Facharbeiter, die Grafikdesignerin oder das Lehrerehepaar sind als Eltern darauf angewiesen, dass die öffentliche Schule funktioniert oder die kommunalen Kitas gut ausgestattet sind. Sie können ihre Kinder in aller Regeln nicht auf Privatschulen schicken. Diese Flucht in den privaten Sektor ist schon länger die Exitstrategie der Oberschichten; sie greift mittlerweile immer stärker auf die obere Mittelschicht über. Für den "Rest" kommt der schwache Staat als Bumerang zurück, mal als Versorgungsengpass, mal als Qualitätsproblem, mal als privatisierte Leistung, für die man in die Tasche greifen muss.

Die Mittelschicht, kurzum, muss sich in der Steuerpolitik dringend als eigene Interessengruppe emanzipieren. Die Steuerquote, also der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt, ist seit den fünfziger Jahren weithin konstant und liegt deutlich unter der vieler unserer europäischen Nachbarländer – trotz sich erweiternder Aufgabenfelder und steigender Erwartungen an den Staat. Das platte Argument, dass Bund und Länder noch nie so viele Steuern eingenommen haben wie heute, sticht nicht. Dieser Anstieg ist dem Wirtschaftswachstum zu verdanken. Er bedeutet keineswegs, dass die Belastung der Bürger zugenommen hätte. Auch der oft herbeizitierte angebliche zu hohe Steueranteil der Spitzenverdiener sagt mehr über deren hochschießende Gewinne aus als über steigende Steuersätze.

Die Verschuldung der öffentlichen Hand ist nicht zuletzt eine Verteilungskrise. Hier muss die Diskussion der gerechten Steuerlast ansetzen, damit die Entwicklung nicht weiter aus dem Ruder läuft. Konkret heißt das: Die Vorschläge der Grünen gehen in die richtige Richtung. In den höheren Einkommensregionen sollte der Spitzensteuersatz höher sein als derzeit. Dadurch ließen sich Entlastungen für die Mittelschicht schaffen. Wir brauchen eine grundlegend veränderte Kapitalertragssteuer, weil nicht einzusehen ist, dass Einnahmen aus Aktienbesitz niedriger als die Arbeit vieler Mittelschichtler besteuert werden. Diese Einkünfte ließen sich leicht auf die Einkommen anrechnen und unterlägen damit der üblichen Progression. Schließlich müssen Erbschaften höher besteuert werden. Über 250 Milliarden Euro vererben die Deutschen jährlich, davon werden nur gut 4 Milliarden Euro Erbschaftsteuer abgeschöpft. Jeder zweite Deutsche, in der Regel Menschen aus unteren sozialen Schichten und der Mittelschicht, erbt keine nennenswerten Vermögen. Mehreinnahmen aus der Erbschaftsteuer wären daher nicht nur gut für den sozialen Ausgleich, sie könnten auch direkt in den Bildungsbereich fließen, um dadurch Lebenschancen breiter zu verteilen. Für die große Debatte gilt: Die Mittelschicht muss sich bewusst machen, welche Leistungen sie vom Staat erwartet – und welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen. Ein Gemeinwesen kann nur wachsen, wenn es gleichermaßen auf den starken und den schwachen Schultern ruht und sich den Fliehkräften gruppenbezogener Egoismen zu widersetzen weiß.

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