"Sieben Millionen arbeiten für einen Hungerlohn"
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"Sieben Millionen arbeiten für einen Hungerlohn"
"Sieben Millionen arbeiten für einen Hungerlohn"
Für SPD-Schattenarbeitsminister Klaus Wiesehügel ist die einst scharf kritisierte Agenda 2010 "längst repariert". Heute gebe es ganz andere Probleme: Unternehmen etwa, die nur Dumpinglöhne zahlen.
Wenn SPD und Grüne im September die Bundestagswahl gewinnen, kann sich Klaus Wiesehügel Hoffnung machen, Ursula von der Leyen (CDU) im Arbeitsministerium abzulösen. Die Nominierung des langjährigen Gewerkschaftsvorsitzenden und Agenda-Reformkritikers in das Kompetenzteam von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück war eine Überraschung - und kann auch als Friedensangebot an Gewerkschaften und Parteilinke verstanden werden. Im Interview zeigt sich Wiesehügel vom rot-grünen Wahlsieg überzeugt - und stellt sein Programm als Minister vor: Mindestlohn und "gute Arbeit" für alle, mehr Geld für die Arbeitsmarktpolitik, Überprüfung der Rente mit 67. Mit der Agenda 2010 hat Wiesehügel offenbar seinen Frieden gemacht: Sie sei zum Teil längst repariert. Heute gebe es andere Probleme.
Die Welt: Herr Wiesehügel, was wäre Ihre erste Amtshandlung als Bundesarbeitsminister?
Klaus Wiesehügel: An meinem ersten Tag als Arbeitsminister werde ich ein Mindestlohngesetz auf den Weg bringen.
Die Welt: Sie wollen Arbeitsminister für die SPD werden, nachdem Sie alle großen rot-grünen Arbeitsmarktreformen kritisiert haben. Wie passt das zusammen?
Wiesehügel: Ich habe nicht alle, sondern einige Arbeitsmarktreformen kritisiert. Einige dieser Reformen sind verändert worden. So falsch war meine Kritik offenbar nicht. Mancher in der SPD sagt: Hätten wir doch mehr auf dich gehört!
Die Welt: Die SPD blickt längst selbstkritisch auf die Agenda 2010, verwässerte sie bereits in der großen Koalition. Was haben Sie mit Ihrer generellen Ablehnung der Agenda falsch gemacht?
Wiesehügel: Ich bin selbstkritisch. Aber mir fällt nichts ein, was ich falsch gemacht haben sollte.
Die Welt: Wo wollen Sie bei der Agenda 2010 nachsteuern?
Wiesehügel: Die Agenda 2010 ist zum Teil doch längst repariert, ohne dass ich dies fordern muss. Die Zahldauer des Arbeitslosengeldes wurde zwischenzeitlich wieder verlängert. Jetzt haben wir doch ganz andere Probleme. Sieben Millionen Menschen arbeiten für einen Hungerlohn. Die brauchen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde.
Die Welt: Mancher dieser sieben Millionen Menschen verlöre bei einem Mindestlohn wohl seinen Job.
Wiesehügel: Im Gegenteil. In fast allen Ländern Europas gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Verdrängung von Beschäftigung wurde nicht nachgewiesen. Für die Unternehmen sind Dumpinglöhne ein Mitnahme-Effekt. Existenziell sind sie für die Unternehmen nicht. Sozial ist, was gute Arbeit schafft.
Die Welt: Was ist "gute Arbeit"?
Wiesehügel: Arbeit, von der ich meine Familie und mich ernähren kann, ohne zusätzliche Unterstützung beantragen zu müssen. Arbeit, die sozial versichert, tarifvertraglich geregelt und unbefristet ist.
Die Welt: Als Arbeitsminister stünden Sie in Regierungsverantwortung. Sie wären für das ganze Land verantwortlich, nicht für eine Gewerkschaft. Fürchten Sie nicht, dass Sie schnell Ihre reine Lehre zurücklassen müssten?
Wiesehügel: Ich will das Regierungsprogramm der SPD umsetzen. Gute Arbeit ist auch keine reine Lehre, sondern war immer eine Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs in diesem Land.
Die Welt: Bislang wurden in der deutschen Geschichte Wahlprogramme eher selten komplett umgesetzt.
Wiesehügel: Ab Herbst werden Sie das zum ersten Mal erleben. Wenn SPD und Grüne gemeinsam regieren.
Die Welt: Den Zwang der Verhältnisse gibt es dann nicht mehr?
Wiesehügel: Heerscharen von Lobbyisten werden mein Ministerium und das Parlament einrennen. Diesen Widerstand gilt es zu brechen. Ich halte Linie.
Die Welt: Vielleicht regieren Sie ab Herbst auch mit Union oder FDP.
Wiesehügel: Das glaube ich nicht. Frau Merkel tat vier Jahre nix und verspricht nun: Im Himmel ist Jahrmarkt. Eine große Koalition wollen wir nicht. Mit der FDP ist eine Regierung undenkbar.
Die Welt: Ist Vollbeschäftigung erreichbar?
Wiesehügel: Selbst in den goldenen Zeiten, bei der höchsten Beschäftigungsrate, hatten wir in der alten Bundesrepublik 500.000 Arbeitslose. Es wird keine Situation geben, wo jeder Mensch Arbeit hat. Deswegen wird Vollbeschäftigung ja auch bei einer Arbeitslosenquote von 3-4 Prozent definiert. Dieses Ziel halte ich für erreichbar.
Die Welt: Was wollen Sie für die immer noch 2,9 Millionen Arbeitslosen tun? Ein Mindestlohn hilft denen ja nicht.
Wiesehügel: Die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter müssen besser werden. Es geht nicht an, dass Langzeitarbeitslose ewig auf einen Termin warten. Anders als Frau von der Leyen würde ich als Minister darauf direkten Einfluss nehmen. Es war falsch von Frau von der Leyen, die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu streichen. Weiterbildung, Qualifikation? Fehlanzeige. Die Arbeitsministerin hat die Langzeitarbeitslosen im Stich gelassen.
Die Welt: Soll dafür der Arbeitslosenversicherungsbeitrag steigen?
Wiesehügel: Schwarz-Gelb hat ihn gesenkt, das war ein Fehler. Arbeitsmarktpolitik kostet Geld: Ich liefere Ihnen aber nicht die Schlagzeile: Wiesehügel will Sozialbeiträge erhöhen. Das Geld kann auch aus dem Haushalt kommen.
Die Welt: Dann müssen Sie beim Finanzminister für einen höheren Sozialetat kämpfen.
Wiesehügel: Das werden Sie erleben! Ich werde einen höheren Etat mit mehr Geld für Arbeitsmarktpolitik durchsetzen. Und zwar nicht, indem ich mich bescheiden mit einem Bettelkorb vor mein Ministerium setze. Das ist auch keine Einbahnstraße. Jeder vermittelte Arbeitslose im Job zahlt Steuern. Arbeitslosigkeit ist auf Dauer viel teurer.
Die Welt: Wie begegnen Sie dem Fachkräftemangel?
Wiesehügel: Mit Qualifizierung zum Beispiel. Frau von der Leyen beklagt einen Fachkräftemangel und verhindert Weiterbildung. Förderung aber ist die beste Methode gegen einen Fachkräftemangel. Wir haben 1,5 Millionen junge Leute ohne Ausbildung!
Die Welt: Viele junge Menschen ohne Berufsabschluss wollen aber nicht noch einmal die Schulbank drücken. Außerdem fehlen Ärzte und Ingenieure ...
Wiesehügel: Und Frau von der Leyen schaut einfach zu.
Die Welt: Wir haben 20.000 Ärzte aus dem Ausland. Es fehlen auch Pflegekräfte.
Wiesehügel: Ja, Pflegekräfte fehlen. Wissen Sie, warum? Weil sie zu schlecht bezahlt werden. Da brauchen wir den Mindestlohn.
Die Welt: Gibt es doch. Tariflich, neun Euro.
Wiesehügel: In Ostdeutschland liegt er unter 8,50 Euro. Entscheidend ist doch, dass der Dienst am Menschen insgesamt aufgewertet werden muss.
Die Welt: Brauchen wir Zuwanderer, um den Fachkräftemangel zu beheben?
Wiesehügel: In manchen Berufen sind wir auf Zuwanderung angewiesen. Insgesamt gibt es derzeit ein Zuwanderungsplus. Wir sollten die Leute, die kommen, herzlich willkommen heißen und schnell integrieren. Und wir sollten sie nicht gleich abschrecken, indem wir sagen, es gibt für sie keine doppelte Staatsbürgerschaft. Genau das macht aber Frau Merkel. Sie heißt die Menschen nicht willkommen.
Die Welt: Brauchen wir Zuwanderer aus Drittstaaten außerhalb Europas, aus der Türkei oder Indien?
Wiesehügel: Billige Arbeitskräfte dürfen nicht durch noch billigere Arbeitskräfte ersetzt werden. Ich habe oft den Verdacht, wenn jemand nach Fachkräften ruft, meint er billige Arbeitskräfte. In erster Linie müssen wir die Potentiale im eigenen Land ausschöpfen danach die in Europa. Wenn darüber hinaus noch Bedarf besteht, über die Regelungen für Drittstaaten hinaus, die wir jetzt schon haben, muss das sorgfältig geprüft werden.
Die Welt: Die Kanzlerin und ihre Arbeitsministerin haben zu einer großen Konferenz zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit nach Berlin geladen. Sind Sie auch eingeladen?
Wiesehügel: Nein, aber ich werde mich mit einigen sozialdemokratischen Arbeitsministern aus Europa treffen. Vor einem Jahr haben die EU-Arbeitsminister bereits Vorschläge zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gemacht. Damals hat die Bundesregierung dafür aber keine Notwendigkeit gesehen. Nun im Wahlkampf tun Merkel und von der Leyen so, als sei es ihnen ein Anliegen. Verantwortungsvolle Politik sieht anders aus.
Die Welt: In Südeuropa gibt es ein großes Interesse am dualen Ausbildungssystem in Deutschland. Wird es zum Exportschlager?
Wiesehügel: Ein duales System kann man nicht verordnen, wie sich das Frau von der Leyen vorstellt, dafür brauchen Sie kooperationsbereite Arbeitgeber, Berufsschulen, Lehrpläne. Das ist ein Prozess, der sehr lange dauert. Es ist dummes Zeug, wenn der Anschein erweckt wird, morgen könnte Spanien das duale System übernehmen. Frau von der Leyen und Frau Merkel tun so, als ob sie das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in Europa lösen. Aber das stimmt nicht.
Die Welt: Frau Nahles beackert schon seit Jahren das Thema der Arbeitsmarktpolitik. Was können Sie denn besser als Frau Nahles?
Wiesehügel: Die Frage stellt sich nicht. Andrea Nahles hat sich über meinen Eintritt ins Kompetenzteam gefreut. Sie hat mir gratuliert und sagte: Willkommen an Bord.
Die Welt: Glauben Sie noch an eine Kanzlerschaft Peer Steinbrücks, oder geht es der SPD jetzt nur noch darum, Schwarz-Gelb zu verhindern?
Wiesehügel: Selbstverständlich glaube ich an den Wahlsieg von Peer Steinbrück und Rot-Grün. Unser Regierungsprogramm ist solide finanziert und sozial gerechter. Wir werden dafür bis zum 22. September werben. Die Dinge werden sich in den letzten fünf, sechs Wochen noch verändern.
Die Welt: Welches Ergebnis peilen Sie für die SPD an?
Wiesehügel: Über 30 Prozent, wenn die Grünen dann 16 oder 17 haben, reicht es.
Die Welt: Würden Sie auch mit der Linkspartei regieren?
Wiesehügel: Nein, die Linkspartei ist kein zuverlässiger Partner in einer Regierung. Sie ist zutiefst zerstritten. Wenn die Linke Verantwortung übernehmen müsste, wäre die Regierung beim ersten Aufschrei ihres Klientels gefährdet. Das kann man auf Dauer nicht machen.
Die Welt: In der rot-grünen Regierungszeit mit Gerhard Schröder sind Sie öfter mit dem Kanzler zusammengerasselt. Haben Sie sich mit ihm ausgesprochen?
Wiesehügel: Wir gehen wie erwachsene Menschen miteinander um.
Die Welt: Wann wird die Rente mit 67 abgeschafft?
Wiesehügel: Wir wollen sie 2014 aussetzen, wenn nicht mindestens die Hälfte der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist.
Die Welt: Das ist ein utopisches Ziel.
Wiesehügel: Nein, das ist sogar sehr lebensnah. Die Rente mit 67 würde von vielen gesellschaftspolitisch akzeptiert, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen stimmten. Viele Arbeitgeber setzen aber nach wie vor nur auf die Jugend. Sie akzeptieren nicht, dass ein Mensch mit 60 noch Verantwortung übernimmt und arbeitet. Als bekannt wurde, dass ich das Arbeitsministerium übernehmen soll, fielen einige Leute über mich her, weil ich 60 Jahre alt bin. Wir brauchen hier eine andere gesellschaftliche Akzeptanz.
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