Gut gemacht oder nur gut gemeint?
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Gut gemacht oder nur gut gemeint?
Gut gemacht oder nur gut gemeint?
Zehn Jahre Hartz-Reformen
Sie sollte ein ganz große Wurf werden: die Arbeitsmarktreform der rot-grünen Koalition. Ziel des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder war es, die Arbeitslosenzahl innerhalb von vier Jahren zu halbieren.
Dazu wurde unter dem Slogan „Fordern und Fördern“ eines der umstrittensten Maßnahmenpakete der deutschen Nachkriegsgeschichte geschnürt: mit Mini-Jobs, Ich-AGs und Jobcentern. Als es der Kanzlerberater und frühere VW-Manager Peter Hartz im August 2002 vorstellte, jubelte er: „Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland.“ Damals konnte er nicht ahnen, dass sein Name bald für sozialen Kahlschlag und wachsende Ungerechtigkeit stehen würde, dass Hunderttausende aus Protest auf die Straße gehen würden.
Zeit für eine Bestandsaufnahme
Zehn Jahre danach ist die Bilanz durchwachsen: Während das Ausland die Hartz-Reformen als Motor des deutschen Jobwunders lobt, ist die deutsche Nation gespalten. Die einen sind davon überzeugt, dass der radikale Umbau des Sozialsystems und die Ausweitung des Niedriglohnsektors unumgänglich waren, um den Wohlstand für alle zu sichern. Die anderen sehen darin die Ursache für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Kein Zweifel: Das soziale Klima ist rauer geworden. Die Berufsbiografien haben sich gewandelt. Und der Wert von Leistung und Arbeit wird neu verhandelt. Wie also hat Hartz IV unsere Gesellschaft verändert? Darüber diskutiert Bettina Böttinger live im WDR Foyer mit ihren Gästen.
Hier gehts zur Sendung : Gut gemacht oder nur gut gemeint?
Zehn Jahre Hartz-Reform
Durchwachsene Bilanz
Zehn Jahre nach dem Startschuss für die umstrittenen Hartz-Reformen am deutschen Arbeitsmarkt fällt die Bilanz durchwachsen aus. Die Wirtschaft und die schwarz-gelbe Koalition würdigen den Abbau der Arbeitslosenzahlen, während die Linke soziale Verwerfungen beklagt.
Zehn Jahre ist es her, dass der frühere VW-Manager Peter Hartz im Französischen Dom in Berlin den Bericht seiner Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes präsentierte. Damals hätte er sich wohl nicht träumen lassen, dass sein Name in der Folge für viele untrennbar mit sozialem Kahlschlag verbunden sein würde. Dass eine ganze Partei ihre Existenzberechtigung fast ausschließlich aus dem Widerstand gegen die Reformen ableiten würde. Oder dass Hunderttausende für Montagsdemos auf die Straße gehen würden. "Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland", jubelte Hartz damals vielmehr.
Ex-Bundeskanzler Schröder: "Großer Wurf"
Auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sparte an jenem Tag nicht mit großen Worten. "Wir müssen aus einem großen Wurf für eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt eine neue Wirklichkeit machen", sagte er. Nicht einmal ein halbes Jahr später traten die beiden ersten Bausteine der Reform in Kraft, die heute als Hartz I und Hartz II bekannt sind. Die Veränderungen bei der Leiharbeit, die frühzeitige Meldepflicht bei drohender Arbeitslosigkeit, die Ich-AG und Mini-Jobs.
Anfang 2004 folgte der Umbau der Bundesanstalt zur Bundesagentur für Arbeit (BA) und ein weiteres Jahr später dann die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, für das sich der Begriff Hartz IV festsetzte.
Arbeitslosenzahlen: Versprechen nicht halten können
Zwei Millionen Arbeitslose weniger in drei Jahren, das war damals das Versprechen. Im August 2002 waren 4,02 Millionen Menschen ohne Job, drei Jahre später waren es jedoch 4,73 Millionen. Das Versprechen hatte sich kurzfristig nicht halten lassen. Dennoch: Viele Ökonomen gehen davon aus, dass die Hartz-Reformen mit ein Grund dafür waren, dass Deutschland derzeit vergleichsweise gut durch die Krise kommt. Heute sind rund 2,88 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet.
Nichtsdestotrotz sind die Folgen der Reform für die Betroffenen oftmals bitter. Langzeitarbeitslose müssen seit der Einführung von Hartz IV mit deutlich weniger Geld auskommen. Wer nach einem Jahr Arbeitslosigkeit noch keinen neuen Job gefunden hat, erhält (derzeit) 374 Euro Regelsatz pro Monat plus Kosten für Unterkunft und Heizung - ganz egal, was er zuvor verdient hat. Wer Stellenangebote ausschlägt, muss mit Sanktionen rechnen. 2011 waren es so viele wie noch nie zuvor.
Klageflut wegen Hartz IV
Seit der Einführung von Hartz IV müssen die Gerichte zudem mit einer regelrechten Klageflut klarkommen. Das folgenreichste war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2010, das die geltenden Regelsätze für verfassungswidrig erklärte. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen Koalition und Opposition sowie Bund und Ländern wurden sie neu berechnet und marginal angehoben.
Hartz selbst wies die Verantwortung für das geringe Niveau der Leistung jüngst zurück. "Als die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Raume stand, war für die Mitglieder der Kommission klar, dass dies nur auf einer lebensfähigen Grundlage geht", sagte er . "Wir wollten den Durchschnitt der höheren Leistung wählen, also der Arbeitslosenhilfe. Das wären 511 Euro als Regelsatz gewesen", fügte er hinzu.
Politischer Denker und kreativer Tarifpolitiker
Hartz gilt als politischer Denker und kreativer Tarifpolitiker. Als Personaldirektor bei VW führte er erst die Vier-Tage-Woche ein und später das Modell "5000 x 5000". Sein Name steht allerdings auch für die VW-Affäre, einen in der deutschen Nachkriegswirtschaft nahezu beispiellosen Korruptionsskandal um Schmiergeld, Tarnfirmen, Lust- und Luxusreisen von Managern und Betriebsräten, für den er auch zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde.
Pech als Namansgeber
Bei den Arbeitsmarktreformen beklagte er wiederholt, dass seine Vorschläge in den Gesetzen Hartz I bis IV nicht Eins zu Eins umgesetzt wurden. Auf seine Rolle als Namensgeber hätte er daher gerne verzichtet. "Hätte ich Leutheusser-Schnarrenberger geheißen, wäre mir das Schicksal erspart geblieben", konstatierte er im vergangenen Jahr in einer ARD-Dokumentation. Ein Vorschlag von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), Hartz IV künftig Basisgeld zu nennen, konnte sich nicht durchsetzen. Die Arbeitsmarktreformen werden daher bis auf Weiteres mit dem Namen Hartz verbunden bleiben.
Hartz-Kommission legt ihren Bericht vor
Reformwunder für den Arbeitsmarkt
Unter dem Bundesadler stehen sie aufgereiht: 13 Männer und eine Frau bilden am 16. August 2002 die Ehrenformation für den Pressetermin im Kanzleramt. Sie haben zusammen mit dem damaligen Volkswagen-Manager Peter Hartz eine tiefgreifende Reform des Arbeitsmarktes erarbeitet. Hartz als Kommissionschef überreicht Bundeskanzler Gerhard Schröder ( SPD ) das Resultat ihrer Beratungen: 343 Druckseiten, die in knapp sechs Monaten entstanden sind. Das Fazit: Es sei machbar, die Zahl der Arbeitslosen innerhalb von drei Jahren um zwei Millionen zu senken. Der Kanzler, der im Endspurt des Bundestagswahlkampfs steckt, lobt die Vorschläge: "Wir haben einen großen Wurf." Es handele sich "ohne Übertreibung" um den größten Reformansatz der Nachkriegsgeschichte.
Anlass für die Einsetzung der Hartz-Kommission ist ein Skandal bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg: Die Behörde hat jahrelang Statistiken geschönt, Anfang Februar 2002 kommt der Betrug ans Licht. Peter Hartz erhält den Auftrag, sowohl die Bundesanstalt als auch die gesamte Arbeitsmarktpolitik zu durchleuchten. Hartz versammelt Gewerkschafter, Arbeitgeber, Wirtschaftswissenschaftler, Politiker, Personalmanager und Unternehmensberater. Mitte Juli 2002 steht das Gerüst des Konzepts. Fortan geht es im Wesentlichen um unterschiedliche Vorstellungen beim Arbeitslosengeld. Leipzigs damaliger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) und Isolde Kunkel-Weber von der Gewerkschaft Verdi kämpfen darum, dass weder die Bezugsdauer noch die Höhe angetastet werden. Doch es kommt anders: Arbeitslosengeld soll künftig nur noch ein Jahr bezahlt werden, anschließend das so genannte Arbeitslosengeld II, das der Sozialhilfe entspricht.
So gut wie alles will die Kommission umkrempeln lassen: Aus den Arbeitsämtern sollen Job-Center, aus Arbeitslosen nun Kunden werden. Als "Ich-AG" sollen sich Arbeitslose mit Zuschüssen auch selbstständig machen können - etwa als Gebäudereiniger, Hauswart oder Tagesmutter. Die rot-grüne Bundesregierung bringt die Vorschläge der Hartz-Kommission als Gesetzentwürfe in den Bundestag ein. Im Bundesrat wird daran einiges verändert, weil dort die Opposition das Sagen hat. Bis zum 1. Januar 2005 treten schließlich die vier Gesetzes-Pakete Hartz I bis Hartz IV in Kraft. Peter Hartz ist mit diesem Ergebnis nicht zufrieden: "Nicht überall, wo Hartz draufsteht, ist auch Hartz drin." Manche Politiker hingegen ärgern sich darüber, dass die Gesetze noch immer nach ihm benannt werden. Anfang 2007 ist der ehemalige Manager zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er in die Schmiergeld- und Rotlichtaffäre bei Volkswagen verwickelt war. Seitdem gilt Peter Hartz als vorbestraft.
Bilanz nach zehn Jahren Baustelle Hartz-Reformen
Bilanz nach zehn Jahren Baustelle Hartz-Reformen
Lob vom politischen Gegner gibt's selten - doch für die Hartz-Reformen zollt selbst die heutige Kanzlerin ihrem Amtsvorgänger Respekt. Doch im Jahre zehn nach Hartz offenbaren sich auch die Schattenseiten: ein wachsender Niedriglohnsektor, mehr schlecht bezahlte Leiharbeit, Lohndumping.
Von Christoph Käppeler, HR, ARD-Hauptstadtstudio
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich Anfang des Jahres zufrieden mit dem, was ihr Vorgänger Gerhard Schröder vor zehn Jahren begonnen hatte: "Nach zwei, drei Jahren haben diese Arbeitsmarktreformen gewirkt und heute haben wir unter drei Millionen."
Unter drei Millionen Arbeitslose - auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen findet im Rückblick die Arbeitsmarktreformen richtig: "Heute stehen wir mit einer halbierten Arbeitslosigkeit von 2,8 Millionen da. Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Wir haben einen sehr soliden Arbeitsmarkt, für den wir im Ausland beneidet werden", lobt die CDU-Politikerin.
Hubertus Pellengar von der arbeitgebernahen Stiftung Neue Soziale Marktwirtschaft bescheinigt den Reformen ebenfalls Erfolg: "Die Rechnung ist aufgegangen: Fördern und fordern, das war richtig. Und auch die Anreize zu verstärken, dass die Menschen eine Beschäftigung aufnehmen."
Und sogar der DGB-Arbeitsmarkt-Experte Wilhelm Adamy, der die Reformen der Agenda 2010 sonst scharf kritisiert, räumt ein: "Es ist zweifelsohne richtig, dass auf der einen Seite eine bessere Betreuung der Arbeitslosen eingesetzt hat." Andererseits müsse ein Arbeitsloser aber bereit sein, auch zu Billiglöhnen zu arbeiten.
Wachsender Niedriglohnsektor
Denn das ist die Schattenseite der Reformen: Fast sieben Millionen Menschen arbeiten heute in Mini-Jobs für höchstens 400 Euro im Monat. Und die schlechter bezahlte Leiharbeit wurde kräftig ausgebaut. Der DGB-Experte beklagt: "In keinem anderen Industrieland ist in den vergangenen Jahren der Niedriglohnsektor so gewachsen wie in Deutschland."
Das räumt auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, deren Genosse Schröder das alles damals durchsetzte, ein: Viele Arbeitgeber hätten die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dazu genutzt, Lohndumping zu betreiben. Auch die Arbeitsministerin von der CDU sieht das kritisch: "In den vergangenen zehn Jahren gab es eine starke Lohnzurückhaltung in Deutschland. Wir haben gesehen, dass die Einkommen oben gewachsen sind, aber ganz unten still gestanden oder sogar gesunken sind - und das muss ein Ende haben."
Parteiübergreifender Ruf nach Mindestlohn
Deshalb fordert mittlerweile auch die CDU einen Mindestlohn - in ähnlicher Art wie SPD, Grüne und Linkspartei. Wirtschaftslobbyist Pellengar hält ihn dagegen für unnötig: "Das Entscheidende ist, dass die Menschen im Niedriglohnsektor nicht gefangen sind. Sie haben Aufstiegsmöglichkeiten. Wir haben das im vergangenen Jahr untersucht: Ein Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor schafft jedes Jahr den Aufstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung."
Das heißt allerdings im Umkehrschluss: 75 Prozent schaffen den Aufstieg nicht - und viele verdienen so wenig, dass der Staat ihr Einkommen aufstocken muss. Ein Teil der Langzeitarbeitslosen wird möglicherweise nie mehr richtig auf dem Arbeitsmarkt ankommen, fürchtet DGB-Mann Adamy. "Sie bemühen sich, strengen sich an, sind heute in einem Ein-Euro-Job, werden wieder arbeitslos, sind übermorgen in Leiharbeit, werden wieder arbeitslos, machen ein Praktikum und so weiter."
Dabei bewegt die Arbeitsministerin eine andere Frage: Wegen der geburtenschwachen Jahrgänge gibt es immer weniger Nachwuchs: "Die ganz große Achillesferse der nächsten Jahre, ist die Frage: Gelingt es genügend Fachpersonal zu haben? Gelingt es, Menschen zu qualifizieren für die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt?"
Und qualifizierte Fachleute sind in Zukunft wohl kaum mehr für Billiglöhne à la Hartz-Reformen zu haben.
Video : Die Folgen der Hartz-Reformen und Zehn Jahre Hartz-Gesetze
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