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"Die Hartz-Reform hat auch Schattenseiten"

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Beitrag von Admin Mi Jul 03, 2013 11:06 pm

Die EU-Staaten stecken Milliarden in den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit. IAB-Chef Möller lobt die positive Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt – kritisiert aber die sehr hohe Lohnspreizung.

Die Welt: Herr Möller, während Qualifizierte gute Chancen auf Arbeit haben, tut sich bei den Langzeitarbeitslosen wenig. Zwei Drittel der 2,9 Millionen Arbeitslosen sind Hartz-IV-Empfänger. Rund eine halbe Million von ihnen hat seit 2005 nicht richtig Fuß gefasst im Arbeitsmarkt. Muss eine neue Bundesregierung sich vor allem darum kümmern, diesen harten Kern in Arbeit zu bringen?

Joachim Möller: Ja, genau. Wir müssen uns unbedingt bemühen, diesen harten Kern abzubauen und auch scheinbar aussichtslose Fälle zu vermitteln.

Die Welt: Was ist möglich als Ziel? Derzeit haben wir 2,9 Millionen Arbeitslose.

Möller: Eigentlich beträgt die gesamte Unterbeschäftigung ja sogar vier Millionen, wenn wir diejenigen dazu zählen, die in Fortbildungsmaßnahmen stecken oder sich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, weil sie derzeit keine Chancen für sich sehen. Ich denke, es ist ein nicht unrealistisches Ziel, diese Zahl in den nächsten zehn Jahren zu halbieren. Aber da muss dann alles stimmen.

Die Welt: Was heißt das?

Möller: Grundvoraussetzung ist die Konjunktur. Jobs müssen da sein, sonst kann man mit aktiver Arbeitsmarktpolitik wenig ausrichten. Dann aber kann eine intelligente, moderne Arbeitsmarktpolitik Wirkung zeigen.

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Joachim Möller ist seit 2007 der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Das IAB ist das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit

Die Welt: Wie genau?

Möller: In dem man zum Beispiel bei offenen Stellen nicht nur nach dem Bewerber mit dem passenden Profil sucht, sondern nach demjenigen, der mit einer Weiterbildung passend gemacht werden könnte. Die Unternehmen sollten manchmal auch offener sein und mehr investieren, um jemanden für eine bestimmte Stelle fit zu machen – auch unterstützt durch gezielte öffentliche Förderung. Es könnte auch ein anderer Mitarbeiter im Unternehmen umqualifiziert werden, und dessen Stelle wiederum mit jemand anderem besetzt werden. Am Ende der Kette bekäme dann womöglich ein gering Qualifizierter einen Job.

Die Welt: Brauchen wir mehr Geld für Arbeitsmarktpolitik?

Möller: Nein, ich denke es geht vor allem um intelligente Maßnahmen und auch eine gute, individuelle Betreuung.

Die Welt: Ein Thema im Wahlkampf sind auch die Hartz-Reformen. SPD und CDU wollen Teile neu regeln. Würde das dem Arbeitsmarkt schaden?

Möller: Im Endeffekt funktioniert der Arbeitsmarkt besser als vor den Reformen – aber es gibt auch Schattenseiten. Wir haben eine sehr hohe Lohnspreizung. War das in diesem Umfang nötig, um mehr Leute in Beschäftigung zu bringen? Oder sind wir da übers Ziel hinausgeschossen? Seit Mitte der 90er-Jahre gehen die Unterschiede zwischen hohen und niedrigen Löhnen auseinander, und seit 2005 hat sich die Entwicklung noch einmal beschleunigt, wie unsere neuesten Berechnungen zeigen. Der Anstieg der Lohnungleichheit ist ungebrochen.

Die Welt: In welchem Ausmaß?

Möller: Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die Vollzeit arbeiten, haben wir festgestellt, dass bei dem Zehntel mit den niedrigsten Löhnen diese inflationsbereinigt zwischen 2000 und 2005 um gut zwei Prozent gesunken sind. Von 2005 bis 2010 sind sie dann nochmals um rund sechs Prozent gesunken. Die Löhne für das bestbezahlte Zehntel sind währenddessen weiter gestiegen. Aus meiner Sicht ist das am unteren Rand korrekturbedürftig. Denn das hat nicht nur gesellschaftliche Konsequenzen, indem Teile der Beschäftigten abgehängt werden. Die teilweise sehr geringe Lohnhöhe kann auch den Trend verstärken, dass es in den unteren Altersgruppen eine höhere Instabilität bei der Beschäftigung gibt. Bei Personen unter 30 hat die durchschnittliche Beschäftigungsdauer von früher 800 Tagen im Schnitt auf gut 600 Tage abgenommen. Es gibt mehr Fluktuation. Das kann natürlich gewollt sein, aber meine Vermutung ist, dass es überwiegend ungewollt ist. Die Bindung der Leute an einen Job ist höher, wenn sie besser bezahlt werden.

Die Welt: Was ist das Problem?

Möller: Instabile Beschäftigungsverhältnisse haben auch Auswirkungen auf die Beschäftigungsfähigkeit. Das deutsche Modell beruht ja stark auf betriebsspezifischem Humankapital, das kann man nur über längere Arbeitsverhältnisse aufbauen, sonst leidet auch die Produktivität. Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einführen sollten.

Die Welt: Derzeit haben wir ein nach Branchen differenziertes Modell, das die Tarifpartner aushandeln.

Möller: Das führt zu Unübersichtlichkeit und verfehlt die Wirkung, als absolute Untergrenze zu wirken. Die Zahl muss sich jeder merken können, bei einem Flickenteppich passiert das nicht. Zudem gibt es ja Bereiche ohne Tarifbindung. Ein gesetzlicher Mindestlohn sollte als Mindeststandard jedem Menschen im Land bekannt sein.

Die Welt: Viele sagen, ein Mindestlohn vernichtet Beschäftigung.

Möller: Das kommt auf die Höhe an. Sinnvoll wäre ein Mindestlohn in Höhe dessen, was in der Zeitarbeit als Mindestlohn gilt – also grob im Bereich von 7,50 (Ost) und 8,19 (West). Um eine Differenzierung nach Osten und Westen kommen wir nicht herum. In dieser Höhe dürfte es kaum negative Auswirkungen geben.

Die Welt: Auf dem EU-Gipfel zur Jugendarbeitslosigkeit in Berlin am Mittwoch ging es darum, wie die "Jugendgarantie" aussehen soll, die jedem Jugendlichen nach vier Monaten Arbeit, Praktikum oder Ausbildung zusichert. Es geht um öffentlich geförderte Beschäftigung. Ist das richtig?

Möller: Öffentlich geförderte Beschäftigung könnte die Leute zumindest von der Straße holen. Es ist fast erstaunlich, dass es noch nicht mehr Demonstrationen und soziale Unruhen gibt. Das ist jedoch zu erwarten, wenn sich der Zustand der Hoffnungslosigkeit ausbreitet. Arbeitsmarktpolitisch ist öffentlich geförderte Beschäftigung aber nur begrenzt sinnvoll. Investitionen in die Bildung gering Qualifizierter sind grundsätzlich der bessere Weg. Der eigentliche Schlüssel zur langfristigen Lösung des Problems ist, dass die Konjunktur in den Krisenländern anspringt. Es müssen mehr Jobs da sein – nur dann kann man mit gezielten Programmen sinnvoll unterstützen, dass Jugendliche eingestellt werden.

Die Welt: Die Bundesregierung empfiehlt den Jugendlichen in Südeuropa, nach Deutschland zu kommen. Kann der Arbeitsmarkt sie aufnehmen?

Möller: Im Jahr 2012 sind rund 30.000 Ausbildungsstellen unbesetzt geblieben. Die Ausbildung von Jugendlichen aus den Krisenländern in Deutschland ist daher in einem gewissen Umfang vorstellbar. Allerdings ist die deutsche Sprache für viele ein echtes Hindernis. Unterm Strich kann man aber festhalten: Im Vergleich zu den Nachbarländern ist die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt wirklich sehr positiv. Wir werden zwar in diesem Jahr einen leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit haben, denn Deutschland ist nicht immun gegenüber der europäischen Wirtschaftsschwäche. Insgesamt ist die Wettbewerbsfähigkeit aber weiterhin hoch, der Produktmix ist gut und zukunftssicher, wir produzieren, was viele Länder brauchen. Das wirkt sich auf die Robustheit des deutschen Arbeitsmarktes aus, von der wir auch längerfristig ausgehen.

Die Welt: Führen die steigenden Zuwanderungszahlen zu einer Trendwende beim Fachkräftemangel? 2012 gab es mit 370.000 überraschen viele.

Möller: Nein, eine Trendwende ist nicht eingeleitet. Dieser starke Anstieg kommt dadurch zustande, dass Länder wie Großbritannien oder Spanien derzeit als Zuwanderungsland wegen Wirtschaftskrisen nicht so interessant sind, also kommen mehr Leute zu uns – das ist jedoch wahrscheinlich ein eher vorübergehendes Phänomen. Aber wir stellen auch fest, dass wir bisher zu niedrige Annahmen hatten. Bisher haben wir in unseren Prognosen mit 100.000 Zuwanderern pro Jahr gerechnet. Jetzt können wir mit 200.000 rechnen. Das würde aber nicht reichen, um den demografischen Trend umzukehren. Bis 2025 heißt das aber, dass das Erwerbspersonenpotenzial nicht mehr um 3,5 Millionen schrumpft, sondern nur noch um 2,5 bis drei Millionen. Wir haben dann also bis zu eine Million Arbeitskräfte mehr als bisher erwartet.

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